Berlin Charlottenburg Doppelbelichtungsfoto

Das magische Foto

Ein seltsames Foto und die Geschichte dazu.

Berlin, Mitte der Neunziger. Unsere Klasse macht eine ganz eigenartige Klassenfahrt – wir fahren nicht weit weg, nicht mal so richtig aus Berlin, die S-Bahn bringt uns zu unseren Unterkünften. An den genauen Ort kann ich mich heute nicht mehr erinnern, es ist auf jeden Fall die westliche Hälfte Berlins. Eine Woche lang bleiben wir in der Herberge, machen diverse Workshops und Ausflüge, abends gibt es Disco unter Aufsicht der Lehrer.

Es gibt auch ein Workshop rund um Fotografie, natürlich muss ich dahin, das ist meine Magie! Fotos mache ich, seit ich zehn bin. Ich meine, richtige Fotos, mit meiner eigenen Kleinbildsucherkamera „Smena-8m“ oder mit Vaters Spiegelreflex „Zenit“. Negativfilme und Fotos entwickeln, alles kein Problem für mich, die notwendige Ausrüstung haben wir daheim, im Taschkent. Den Film in dem Fotoapparat abrollen, in dem schwarzen Sack aus der Kartusche herausnehmen, in die spiralförmige Spule einschieben, in die lichtdichte Dose rein, verschließen. Ein Reagenz im Wasser lösen und durch das Loch auffüllen, jetzt an dem Knebel in der Mitte des Dosendeckels drehen, bis der Film entwickelt ist. Hinausnehmen, an der Wäscheleine trocknen lassen. Abends oder am nächsten Tag wird das Labor im Badezimmer vorbereitet: den Vergrößerer aufbauen, die drei Wannen mit Reagenzien füllen, die rote Lampe aufstellen, Tür und das kleine Fenster mit der Decke vor Licht abdichten. Die Magie kann beginnen: oben das Negativ, unten Fotopapier, Rotlicht aus, Belichtungslampe an, aus, Entwicklerbad, Stoppbad, Fixiererbad und zum Spülen das glitschige Papier in die gefüllte Badewanne reinwerfen, am Ende werden die Schwarz-Weiß-Fotos an der Wäscheleine getrocknet und in den Album verstaut.

So habe ich das in Erinnerung, aber der Spaß hört auf, als die Familie nach Deutschland auswandert und die komplette Ausrüstung, samt beiden Kameras (!) in Usbekistan bleibt. Für immer. Neues Land, andere Probleme, für das Hobby kein Platz und kein Geld, billige Kleinbildkamera mit zwei festen Brennweiten und eingebautem Blitz, dafür sind alle Fotos in Farbe, und müssen nicht mehr selbst entwickelt werden. Die Magie ist weg.

Dann kommt der Workshop und nach gefühlten hundert Jahren habe ich wieder die Freude. Wir bekommen richtige Kameras, fahren morgens nach Charlottenburg und fotografieren alles, was wir sehen. Danach geht es zurück in die Herberge, ins Labor. Die komplette Ausrüstung ist da, die ist besser, moderner, alles ist bereit, wir fangen an unsere Fotos zu entwickeln. Es ist dunkel im Raum, ein Negativ im Vergrößerer, das Fotopapier liegt darunter, ich starte die Belichtung, und in diesem Moment geht plötzlich das Licht im Raum an. Jemand kommt rein, betätigt automatisch den Lichtschalter, und als er sieht, dass der Raum nicht leer ist und wir am Entwickeln sind, macht das Licht sofort wieder aus. Das Deckenlicht ist nur eine Sekunde oder weniger an. Ich lasse das Foto durch die Wannen gehen und die Magie kommt in tausendfacher Stärke zurück:

Berlin Charlottenburg Doppelbelichtungsfoto
Berlin-Charlottenburg, das magische Foto

Klar, es ist kein besonderes Motiv, fremde Menschen auf Berliner Straße, aber der weiße Boden, Konturen um die dunkleren Objekte, und statt des Himmels das düstere Etwas, lassen mein Bild unreal magisch wirken. Wir versuchen diesen Effekt mit einem anderen Bild nachzustellen, aber alle folgenden Fotos werden schwarz überbelichtet. Zum Experimentieren haben wir nicht viel Zeit, die anderen wollen auch ihre Bilder fertig haben, so geht der Workshop ganz gewöhnlich weiter. Mein Foto bleibt einzigartig und ich darf das behalten.

Nach der Klassenfahrt lege ich das Bild ins Album und mein Hobby steht still, der Alltag wird dokumentiert mit den seelenlosen Farbfotos aus dem Entwicklungslabor der Drogerie um die Ecke. Später mache ich noch Praktikum in einer kleinen Fotoagentur. Mein Klassenleiter muss meine Leidenschaft bei dem Workshop gemerkt haben und vermittelt mir diesen Praktikumsplatz. Dort bekomme ich auch eine Spiegelreflexkamera zum Fotografieren, darf wieder Entwickeln, lerne Grundlagen von Retusche und darf die Negative katalogisieren. Wieder der magische Moment und dann kommen die Jahre der großen Stille – meine ganze Leidenschaft gehört den Computern.

Gegen Mitte der Zweitausender fange ich wieder an zu fotografieren, diesmal digital, modern und zeitgemäß. Die analogen Bilder tristen ihr Dasein im Schrank des Elternhauses. Doch endlich entscheide ich auch diese Fotos einzuscannen und digital zu sichern, finde das Bild und kann den magischen Moment vor dem Vergessen retten.